Aus dem roten Büchlein, April 2018

Eigenartig, dass die Leute, die das Leben unbedingt voll auskosten zu müssen meinen - die Solo-Weltreisenden, die Extremkletterer, die Apnoetaucher, die Fugu-Esser - ständig im Namen des Lebendigseins, des Sichamlebenfühlens, Dinge tun, die genau dieses Leben gefährden, verkürzen, verschlechtern oder beenden könnten. Als ob das Leben nur dann in seiner reinsten Form spürbar würde, wenn es akut bedroht ist. Grosse Höhe wird schliesslich auch intensiver erlebt, wenn man die Nasenspitze über einen Felsvorsprung hinausschiebt, als wenn man auf dem Rücken am Ufer eines Bergsees in den Himmel schaut. Und so richtig am Mark zehren kann das Gefühl von Höhe ja erst im freien Fall.

Muss man vielleicht ein bisschen sterben wollen, um wirklich leben zu können?

Reisetagebücher II.

Vielleicht fällt das Zuhausebleiben leichter, wenn man sich vor Augen führt, wo man schon war. Lieber dankbar als genervt, gell. Ich lese also gegen das Fernweh in alten Notizbüchern, die mal irgendwohin mitgereist sind.

2014 habe ich nach der Ankunft am Ziel notiert:

Wahnsinn, wie schnell man so ganz woanders ist. Im Radio sind religiöse Gesänge in Arabisch nur Milimeter des Tuning-Rädchens von Dire Straits entfernt. Da liegt sonst mehr dazwischen.

Es gibt am Buffet der Dekadenz nur wenige süssere Delikatessen als das Über-Grosstädte-Fliegen bei Nacht. Diese Muster, die die verschwenderisch beleuchteten Hauptverkehrsachsen ins Land zeichnen. Tel Aviv und Haifa: wunderschön. Kreta und Santorini haben geschimmert wie ein leises Versprechen.

Wer fühlt sich wohl einsamer bei Nacht, das Kreuzfahrschiff oder das Flugzeug? Ob die beiden einander manchmal heimlich beneiden?

Der Taxifahrer Hassan und ich können uns nur bruchstückhaft verständigen. Sein unangefochtener Lieblingsausdruck ist «no problem». Er beschreibt, wo er wohnt, und sagt, er habe keine Frau. «No wife, no problem», sage ich. Er schaut traurig. Ich schäme mich ein bisschen.

Die Rushhour in Amman ist zwischen fünf Uhr morgens und zwei Uhr nachts.

Los gehts!

Auf der Mörsburg bricht der Wahnsinn endgültig aus, vorerst hinter verschlossenen Türen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er durch alle Fenster und Tore und Mauerritzen hinausbricht und die Leute zum Spielen und Staunen einlädt… Es knarrt im Gebälk!

Bygdøy, Oslo, 4. August 2018

Möwen sind viel grösser, als man meint. Sie sind menschenscheu, sogar hier. Vermutlich nur, weil sie keine Ahnung haben, wie furchterregend sie mit ihren scharfen Schnäbeln eigentlich sind. Vorhin habe ich eine jagen sehen. Das Wasser hier in der Bucht ist seicht, aber der Wind und die Gezeiten bewegen es immerzu. Diese Möwe hat also vom Felsen neben mir aus ins Wasser geschaut, ist dann aufgestiegen, hat mit einigen prekären Manövern den Wind ausgetänzelt wie ein Boxer seinen Gegener, ist dann über die Wasseroberfläche gesaust und hat im ungebremsten Flug einen Fisch aus den Wellen gepflückt. Als wäre es nichts! Die hat kein Gefühl dafür, wie sehr wir sie fürchten müssten. Einmal kräftig mit diesem Schnabel in einen Menschen gehackt - und offen ist die Halsschlagader. Oder die klaffende Wunde, bereit für eine tödliche Infektion. Ich verzichte darauf, ihr das alles zu erklären. Manchmal ist es für alle besser, wenn sich jemand seiner Macht nicht voll bewusst ist.

Huk-4-August

Materialtests

Im Mai wirds umtriebig: Auf der Mörsburg geschehen fantastische Sachen. Aktuelle Informationen gibt es laufend auf dieser Seite: Knarren im Gebälk - Kunst spielt mit Schloss.

Inzwischen finden die nötigen Materialtests statt: Man nehme ein paar Kiefernbretter, trage Stempelfarbe und Kleister auf, besprenkle das Ganze mit ein paar Texten und… na ja, ein bisschen Tüfteln gehört schon noch dazu. Das Resultat ist ab dem 1. Mai 2020 auf der Mörsburg zu sehen - im Rahmen der wirklich mit nichts vergleichbaren Gesamtinstallation «Knarren im Gebälk».

Ich blogge zurzeit nicht, weil mein anderes Business mich seit Beginn dieses Jahres stärker denn je beansprucht. Ich nehme an, das ist eine gute Entwicklung.

Dass ich nicht blogge, heisst leider nicht, dass sich mein Gehirn deswegen mal ein wenig entspannen würde. Es stöbert nach wie vor - völlig selbstständig und ohne meine Zustimmung - Dinge auf, die kostbare Denkkapazität in Anspruch nehmen. Gerade, wenn man mit Sprache arbeitet, ist das unumgänglich. Es sind häufig Formulierungen, die auf Anhieb nicht gut klingen, aber doch einigermassen verständlich sind, weshalb sich der geneigte Leser überwinden muss, herauszufinden, was denn daran genau falsch ist. Wenn man den Sinn ungefähr verstanden hat, kann man ja schliesslich auch einfach weiterlesen. Aber ich bleibe daran hängen, ich grüble, ich untersuche, ich formuliere um, bis ich weiss, was mich stört. Es ist ein Zwang. Jemanden in diese Vorgänge einzuweihen, würde eine gewaltige Menge von Worten erfordern.

Dank Helden wie George Carlin und Martin Ebel muss ich die aber nicht mehr alle schreiben.

 

 

Panik in der Kommentarspalte.

Ein beschauliches Heim, ein lauer Freitagabend. Es hätte so schön sein können, wird die Frau gleich denken. Sie heisst vielleicht Meier oder Hofer oder sogar Meierhofer. Sie hatte einen strengen Tag bei der Arbeit, dann einen strengen Abend mit den Kindern. Jetzt sind die im Bett, bald kommt Herr Meier oder Hofer oder Meierhofer von seiner Sitzung mit dem Ballsportverein nach Hause.

Die Frau weiss: Das ist ihr Moment. Ihre Viertelstunde, die sie nur für sich alleine hat. Zeit, sich auf den neusten Stand zu bringen. Fernsehen kommt nicht in Frage. Selbst auf der leisesten Stufe haben die TV-Geräusche die magische Fähigkeit, ihre Kinder zu wecken und daran zu erinnern, dass sie noch durstig sind / den falschen Schlafanzug anhaben / dringend nochmal aufs Klo müssen - irgend etwas eben, das ein praktisch geräuschfreies Zurückschleichen ins Wohnzimmer erfordert. Also bleibt die Alternative: Nachrichten im Internet. Frau Meierhofer tippt bloss zwei Zahlen in das Suchfeld des Browsers, schon bietet die auflagenstärkste Gratiszeitung des Landes ihre Dienste an. Sie klickt.

Die erste Schlagzeile fegt alle Gemütlichkeit aus ihrem Freitagabend. Krebserregende IKEA-Matratzen! Eventuell auch in der Schweiz! Dumm nur, das in dem Artikel nichts dazu steht. Dort ist lediglich zu lesen, dass in sechs europäischen Ländern IKEA gewisse Matratzen aus dem Verkauf genommen hat. Alles Weitere sei in Abklärung. Für Frau Meierhofer beginnt das nervöse Bangen: Schlafen etwa ihre niedlichen Engel gerade in tödlichen Betten? Sie tut das einzige, was ihr logisch erscheint: Frau Meierhofer bricht in Panik aus. Hämmert ihre Befürchtungen ins Kommentarfeld unter dem eigentlich nur aus Schlagzeile bestehenden Artikel, wo sie mit denen anderer erschütterter Leser mischen, bis sich die Angstschreie und die verzweifelten Fragen nach Modellnamen und Verkaufszeiträumen überschlagen wie schmutzige Wäsche im Schleudergang. Massenpanik in der Kommentarspalte.

Und das nur, weil die Journalisten heute schon Artikel veröffentlichen, bevor sie überhaupt wissen, was sie darin schreiben werden. Die Live-Updates des Artikels sind keine Entschädigung dafür. Wem nützt ein Bericht, den der Journalist (obwohl, heute heissts ja Content Manager, das ist nicht mit so hohen Moralvostellungen belastet) schon veröffentlicht / veröffentlichen muss, bevor er überhaupt wirklich dafür recherchiert hat?

Der Klickzähler reibt sich zufrieden die Hände, während Frau Meierhofer und all die anderen aufgescheuchten Gemüter die Seite mit dem Artikel in der Hoffnung auf echte Information wieder und wieder aktualisieren. «Mir doch wurscht, ob der Bericht nützlich ist», sagte er. Das kann ich nachvollziehen. Warum Inhalt generieren, wenn Schlagzeilen ausreichen, damit etwas geklickt wird?

Ich lade meine Pistole und schiesse dem mittlerweile fröhlich tanzenden Klickzähler ins Knie. Leicht wird es nicht werden, ihn zu besiegen.

 

 

 

Lesen vor Leuten.

Was für ein freudiges Ereignis - herzlichen Dank fürs Kommen!

Im Rahmen der Veranstaltung «Open Doors» durfte ich im Atelier von Lea Aeschbacher und Claudia Weber ein paar Geschichten lesen. Die Zuhörer hatten die Möglichkeit, sich währenddessen an einem Berg Ton gestalterisch auszutoben. So war das:

Wasserdicht.

Höhepunkt des heutigen Tages: Für die Anmeldung zur Hochseeschein-Prüfung bei der Swiss Yachting Association muss man ein ausreichendes Sehvermögen nachweisen.

Das Formular «Attest über das Sehvermögen», das man dafür einreichen muss, enthält an prominenter Stelle auch eine Beschreibung der Voraussetzungen für einäugige Antragsteller.

Als ob Piraten sich um irgendwelche Formulare scheren würden.

Festwochen, halt.

Erkenntnisse eines ersten Besuchs der Winterthurer Musikfestwochen:

  1. Es gibt immer noch Leute mit Dreadlocks. Irgendwie tröstlich.
  2. Der fröhliche Betrunkene neben dir kann nichts dafür, wenn jedes Lied, das die Band spielt, sein Lieblingslied ist. Und weil er so fröhlich und so betrunken ist, muss er das halt auch sehr laut kundtun. Montiere einen Gehörschutz deiner Wahl und lass ihm die Freude.
  3. Das Winterthurer Trinkwasser muss einen Spritzer Valium enthalten. Der Anteil tiefenentspannter Menschen an einer grossen Zuschauermenge ist vermutlich nirgends höher als am MFW-Sonntagabend.
  4. Aufgrund dieser Momentaufnahme würde ich «Fest» absolut unterschreiben. «Musik» eher nicht.

Eine Perle, wie gewünscht.

Es gibt nur ganz wenige Dinge im Leben, die komplizierter werden, wenn man sie schriftlich sammelt und Listen davon anlegt. Listen machen Dinge greifbar und übersichtlich. Aus meiner Sammlung würde ich anderen Menschen zur Nachahmung am meisten die «Liste mit den Büchern und Filmen, die ich mir mit Wonne zu Gemüte führen werde, wenn es die Zeit wieder erlaubt» empfehlen.

Das Lebensmotto (also das Motto des Lebens, nicht meins) lautet bekanntlich «wenn schon, denn schon». Manchmal scheint es fröhlich «Tortenschlacht!» zu schreien und wirft uns dann alles gleichzeitig an. Torte 1: Zahnweh! Torte 2: Überstunden! Torte 3: Unerwartete Ferien! Torte 4: Wohnung gekündigt! Torte 5: Umzugshelfer gefunden! Torte 6: Zwei Hochzeitseinladungen am gleichen Tag! Torte 7: Steuererklärung! Et cetera. Je nach dem, wie wir diesmal nach der Schlacht aussehen, lacht das Leben dann mit oder über uns.

Die grösste Schwierigkeit liegt aber darin, nach der Attacke, wenn alle Torten einigermassen abgewehrt und auf dem Boden zusammengewischt sind, nicht gleich in komplette Lähmung zu verfallen. Sonst vergisst man, sich etwas Gutes zu tun und watet gleich in die nächste Torte hinein. In solchen Fällen hilft die Liste ganz hervorragend.

An die oberste Position auf meiner war nun ein Buch gerutscht, dessen hervorragende Qualität mich eigentlich nicht mehr überraschen sollte. Trotzdem bin ich ganz angetan und empfehle es gerne Leuten weiter, die sich an schöner Sprache freuen und denen ein wohliges Gruseln nicht fremd ist:

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Neil Gaiman - Trigger Warning

Ende zwanzig.

LÉA: Manchmal frage ich mich, ob ich eigentlich überhaupt schon alt genug bin, um irgendwelche «guten alten Zeiten» zu vermissen.

SIMON: (lacht) Also ich vermisse nichts.

LÉA: Gar nie?

SIMON: Ich bin einfach nicht so der nostalgische Typ. Jetzt schau mich doch nicht so an.

LÉA: Was ist mit der Uni? Wir hatten doch tolle Zeiten. Würdest du nichts davon noch mal erleben wollen?

SIMON: Noch mal ein lauter Teilzeitalkoholiker mit einer Meinung zu allem und jedem sein, mit der festen Absicht, sich «Your Disco Needs You» quer über die Brust tätowieren zu lassen? Nein.

LÉA: (murmelt) Also ich mochte den Typen ziemlich.

SIMON: Was?

LÉA: Was?